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Die strenge Ordnung ist wackelig

,,Als ich in den sechziger Jahren aufs Gymnasium kam, da gab es sehr viele Familien, in denen es zuvor noch nie jemand bis auf die höhere Schule geschafft hatte. Die Familien hatten meist wenig Geld. Und sie mussten für die Schulbücher zahlen. Diese Familien haben auf vieles verzichtet, um ihren Kindern diese Chance zu geben. Heute habe ich den Eindruck, dass die wohlhabende Gesellschaft Bildungsinvestitionen vor allem als staatliche Investitionen sieht. Zur öffentlichen Verantwortung für Aufstiegschancen gehört auch die private Bereitschaft, sie wahrzunehmen. Unsere Gesellschaft muss mehr Neugierde auf Bildung wecken, sonst helfen immer mehr Investitionen nicht wirklich.“
Annette Schavan (CDU), Bundesbildungsministerin, ,,Ich wünsche mir mehr Bildungsbürger“, Tagesspiegel, 6. Dezember 2009.

Verzichten, leisten, (ver-)dienen, aufsteigen - und Schluß. Früher war alles besser, als es noch wirklich arme Leute gab, die sich richtig angestrengt haben für ein gutes, ordentliches Leben: Anregungsarm, hierarchisch sortiert und geschäftsdienlich, so träumt sich die Konservative die Bevölkerung.
Das ist das Weltbild, nach dem die unerfreuliche Gegenwart der circa 180.000 Arbeiter und Angestellten der Automobilindustrie im Herkunftsländle von Frau Schavan, die derzeit um ihre Arbeitsplätze kämpfen, strukturiert ist. Auch der vom Deutschen Industrie- und Handelskammertag (DIHK) stolz prophezeite fünfprozentige ,,Produktionszuwachs“ der deutsche Industrie beruht derselben Ankündigung zufolge auf einem geplanten Abbau von bundesweit rund 300.000 Arbeitsplätzen. Damit ist die Politik des Wachstums der Profite als gesellschaftliches ,,Wohlfahrts-Modell“ gescheitert. Die Apologeten und Praktiker von Standort und Karriere kommen aus der Krise nicht heraus.
Von dieser Realität nimmt die Bundesbildungsministerin jedoch wenig Kenntnis: Sie behauptet, ,,dass in Deutschland 84 Prozent der Erwachsenen [...] alle Chancen [haben], eine Ausbildung oder ein Studium aufzunehmen.“ (ebd.) Elitäre Verblendung ist die Basis der Predigt der gelernten Theologin: Alle hätten die gleiche Freiheit, gemäß ihrer ,,Begabung“ ,,Karriere“ zu machen. ,,Leistung“ sei die Fähigkeit zum Verzicht.
Lernen, nur gegeneinander?
Das Leben, eine Kampfbahn?
So wird soziale Ungleichheit naturalisiert, um sie der gesellschaftlichen Veränderbarkeit zu entziehen. Der arbeitsfaulen und bildungsscheuen Bevölkerung sei deshalb mit Anreizen und Disziplinierung auf die eigenen Beine zu helfen. Dafür seien dann ebenso ,,Leistungsstipendien“ wie ,,Eigenbeteiligungen“ bei der Bildungsfinanzierung durchzusetzen. Spare, spare - deine Bank sagt Dank.
Noch immer sollen sich im Ringen der Standorte (Profite), der Hochschulen (Exzellenz), der Fachbereiche (Drittmittel), der Einzelnen (Lohn & Brot) die Bildungswilligen beweisen. Mit pfäffischer Milde wird dafür vertuscht, daß wo einzelne siegen sollen, alle verlieren, weil ,,Oben“ und ,,Unten“ bleiben. Diese Perspektive reicht also gesellschaftlich wie individuell ungefähr bis zum Brett vorm Kopf.
Aktuell steht die Durchsetzung von gesellschaftskritisch eingreifender Wissenschaft an demokratischen Hochschulen an, die sozial offene Stätten des solidarischen Lernens und Arbeitens sind. Diese sind eine erhebliche zivile und soziale Kultivierung der Gesellschaft. Dafür muß die Beseitigung von Armut, Krieg, Unterdrückung und einer rauen Alltagskultur sowie die menschengerechte Nutzung des gesellschaftlich erarbeiteten Reichtums Ziel gemeinsamen (wissenschaftlichen) Engagements sein. Universitäten sind weder Kirchen noch Kasernen. Der verallgemeinerbare Sinn der letztgenannten Einrichtungen steht ohnehin in Frage. Das Vergehende sollte deshalb zügig auch Vergangen sein. Die Zuchtmeister (und Zuchtmeisterinnen) der Republik müssen also noch mehr Zunder kriegen: Kritisch, solidarisch, humanistisch für ein besseres Leben.
- Das Neue beginnt.

,,Der sinnliche Rattenhaufen,
Er will nur fressen und saufen,
Er denkt nicht, während er säuft und frißt,
Daß unsre Seele unsterblich ist.

So eine wilde Ratze,
Die fürchtet nicht Hölle, nicht Katze;
Sie hat kein Gut, sie hat kein Geld
Und wünscht aufs neue zu teilen
die Welt.“

Aus: Heinrich Heine, ,,Die Wanderratten“.

V.i.S.d.P.: Niels Kreller, Schützenstr. 57, 22761 Hamburg.
Herausgegeben von: harte zeiten - junge sozialisten & fachschaftsaktive an der Universität Hamburg.
Veröffentlicht am Montag, den 7. Dezember 2009, http://www.harte--zeiten.de/artikel_919.html