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Verletzte Tiger

"Die Demokratie braucht jedoch mehr, nicht weniger Führung als andere Regime....Niemand wird heute eine demokratische Diktatur fordern. Aber was wird, wenn die normalen Verfahren nicht mehr greifen. [...] Wir müssen ernsthaft darüber nachdenken, ob die Verfassung von 1949 mit ihrer vorsichtig ausgeklügelten Machtverteilung nicht jede energische Konsolidierung Deutschlands verhindert."

(Arnulf Baring in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 15.11.02)

Die konservative und liberale Presse ebenso wie Arbeitgeberverbände, Unionsparteien und FDP blasen zum Angriff. Demokratische und soziale Errungenschaften seien Hindernisse, die wirtschaftliche Krise zu bewältigen, "Führung" sei gefragt und Rot-Grün unfähig, die notwendige Entschlossenheit zu zeigen. In der FAZ wird deshalb bedauert, dass heute im Gegensatz zum Ende der Weimarer Republik die Möglichkeit ausscheide, "mit Hilfe präsidialer Notverordnungen erforderliche, schmerzliche Reformen ohne das Parlament in die Wege zu leiten", und man versteigt sich dazu, zum reaktionären Volksaufstand gegen den angeschlagenen, demokratisch organisierten Sozialstaat aufzurufen ("Bürger, auf die Barrikaden!" ebd.). All das, weil der Kapitalismus weltweit in einer tiefen Krise steckt - und es nur zwei Antworten darauf gibt: Immer mehr Brutalität oder sein Ende.

Die Brutalisierung ist in Hamburg seit der Wahl des CDU/FDP/Schill-Senats bereits Regierungspraxis: Schon vorher auf ein Minimum zusammengesparte Sozial- und Kultureinrichtungen erhalten reihenweise ihren Todesstoß per Rotstift. Die öffentlich gesicherte Versorgung aller im Gesundheits- und Bildungsbereich oder selbst mit Trinkwasser stehen zur Disposition. Die heftige Auseinandersetzung um die Weiterentwicklung der Hamburger Hochschulen ist nur ein Exempel, aber ein gutes: Im Verein mit dem Hamburger Abendblatt (Springer-Konzern) wollen die Koalitionsfraktionen, im Auftrag der Hamburger Wirtschaft und angeführt von Wissenschaftssenator Dräger, den Resten demokratischer Beteiligung und sozialer Sicherheit den Garaus machen. Demokratische Gremien gäbe es zu viele, angeblich ginge das zu Lasten der Lehre, ihre Anzahl sei erschreckend etc. heißt es im Abendblatt vom 21.11.02.

Seit der Vorstellung des Entwurfs für ein "HochschulModernisierungsGesetz" ist bekannt, dass die Vorschläge des Senators für eine Neuorganisierung der Uni-Selbstverwaltung dem NS-Universitätsgesetz von 1935 in diesen Punkten erstaunlich ähneln. Nach den massiven Protesten der Hochschulmitglieder moderater geworden, erklärt er nun: "Es liegt in der Verantwortung der Hochschulen, effiziente Gremienstrukturen zu schaffen." Was ihn nicht hindert, deren teilweise Abschaffung und die umfassende Beschneidung ihrer Kompetenzen zu Gunsten von sog. Führungspersonal weiterhin festlegen zu wollen.

Ja, Demokratie schadet nur - und zwar dem Profit. Weil nämlich Demokratie, also dem Wortlaut nach die Herrschaft des Volkes, selbst wenn sie so unvollkommen verwirklicht ist wie derzeit an der Uni oder auch in der ganzen Republik, durch die Beteiligung von Repräsentanten der Subalternen - (potentiell) lohnabhängig Beschäftigte - deren Interessenwahrnehmung ermöglicht. Dieses Interesse ist dadurch bestimmt, größtmögliche Verfügung über die Mittel der eigenen Bedürfnisbefriedigung zu erhalten. Konkret heißt das, soziale Sicherheit, befriedigende Arbeit, friedliche Entwicklung, umfassende Bildungsbeteiligung und die Möglichkeit kultureller Weltaneignung gegen das Interesse der Kapitalseite nach unbegrenztem Profit durchzusetzen.

An der Uni hat sich - auch in besagten Gremien - lautstarker Protest gegen die Politik des Rechtssenats erhoben. Studierende fordern den weitreichenden Ausbau der demokratischen Mitbestimmung, kritischen Gesellschaftsbezug in den Wissenschaften und soziale Öffnung mit dem Ziel, den gesellschaftlichen Nutzen der Hochschulen durch eine umfassende Orientierung der Bildungsinhalte und der Organisation von Forschung, Lehre und Selbstverwaltung an der Lösung gesellschaftlicher Probleme zu erhöhen. Würden Reformen dieser Art durchgesetzt und damit auch für andere gesellschaftliche Bereiche das Signal geben, dass weitgehende Reformen möglich sind, würde die gesellschaftliche Duldung der neoliberalen Politik nicht nur in Hamburg schnell enden. Gesellschaftlicher Reichtum ist genug vorhanden, er ist nur sehr ungleich verteilt.

Mit blassen Reförmchen versucht auf Bundesebene Rot-Grün diese immer krassere Ungleichverteilung abzumildern und wird sofort aufs Schärfste von Rechts attackiert. Offensichtlich haben die Arbeitgeberverbände Angst vor den Auswirkungen schon einer mickrigen Vermögensbesteuerung. Der Tiger ist verletzt - er ist gefährlich.

Rot-Grün wird mit abgeschwächter neoliberaler Politik dem nichts entgegenzusetzten haben. Ein "bißchen" Krieg, eine regulierte Privatisierung der Solidarsysteme oder Versuche, die Arbeitslosigkeit durch neoliberale Deregulierung des Arbeitsmarktes und Abbau des Arbeitnehmerschutzes abzubauen, sind Wasser auf die Mühlen der Neoliberalen.

Gegen die Diktatur des totalen Marktes muss stattdessen eine humanistische Gesellschaftsentwicklung vermittels einer breiten außerparlamentarischen Bewegung erstritten werden. Die Großdemonstration der Gewerkschaften und aller von der Senatspolitik Bedrohten am 5. Dezember sollte als Auftakt dazu verstanden werden. Der Kampf um eine fortschrittliche Hochschulreform ist ebenfalls ein wesentlicher Beitrag. Ihn gilt es entschlossen zu führen.

V.i.S.d.P.: Niels Kreller, Schützenstr. 57, 22761 Hamburg.
Herausgegeben von: juso-hochschulgruppe & fachschaftsaktive an der Universität Hamburg.
Veröffentlicht am Montag, den 25. November 2002, http://www.harte--zeiten.de/artikel_45.html