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Operation gelungen, Patient bleibt tot

Die große Koalition ist eine ärgerliche Übergangserscheinung

"Im kapitalistischen Zeitalter erfüllt der Produzent nicht mehr die Bedürfnisse: er versucht Bedürfnisse zu erregen, und ist stets geneigt, viel eher der Wirklichkeit als sich selbst die Existenzberechtigung abzusprechen. Schnell entschwindet wohl ein Bedürfnis; aber es dauert lange, ehe eine kapitalistische Institution zerfällt. Sie verteidigt sich und steht unerschütterlich - aus keinem anderen Grunde, weil sie nun einmal da ist."
(Kurt Tucholsky, "Militärbilanz", 1920)

Die große Koalition ist eine trübe Suppe.

Harmonie, die zwanghafte Vertuschung von gesellschaftlichen Widersprüchen, ist ihr Gebot. Historisch sind derartige Verbrüderungen verantwortlich für Kommunistenhatz in der BRD (ab 1949), Wiederbewaffnung (1953), Notstandsgesetze (1968), die folgenschwere Zertrümmerung der DDR-Gesellschaft (ab 1989), die krasse Einschränkung des Asylrechts (1993) und den Jugoslawien-Krieg (1999). Problemlösungen sind also nicht zu erwarten.

Nun irrt aber, wer in Katastrophismus verfällt. Die Kriegsablehnung ist (weltweit) in den letzten fünf Jahren erheblich gesteigert, die Ablehnung der neoliberalen Welt-"Umstrukturierung" wird durch soziale Bewegungen, das "Non" zur EU-Verfassung und das Votum der Deutschen sowohl gegen Schwarz-Gelb als auch gegen Rot-Grün manifest. Die Vorherrschaft des neoliberalen Wirtschaftens und Denkens zeigt deutliche Risse. Allein: Die soziale Überschreitung des Kapitalismus muß entwickelt, erkämpft und sich dabei und dafür vielfach persönlich angeeignet werden.

Dafür wird man sich (auch) mit der 'neuen' Gemeinsamkeit ("für Deutschland") kritisch befassen: Die Koalitionäre wollen "Mit Mut und Menschlichkeit!" die Mehrwertsteuer erhöhen, was eine weitere Massenverarmung befördert, die Last der Sozialversicherung anteilig von Unternehmen zu Arbeitern und Angestellten verlagert und die Konjunktur schwächt. Die Abhängigkeit der bundesdeutschen Wirtschaft vom Export in die USA und ihre Bindung an deren Rüstungsförderungspolitik werden damit verschärft. Innenpolitisch wappnet man sich gegen elendsbedingte Kriminalität und Protest (von Frankreich lernen?). Allgemeine Studiengebühren lehnt die SPD nach den massiven studentischen Protesten zwar weiter ab, für die kapitalkonforme Zurichtung in Wissenschafts- und Kulturförderung will man aber doch irgendwie gemeinsam sorgen. Im Krieg der Standorte kennen manche keine Klassen mehr. Im Feuilleton murrt's, das Kapital dankt fordernd.

Wo Politik mit Angst und Verschleierung der realen sozialen Konflikte gemacht wird, sind Wahnsinn und kultureller Ver- und Rückfall nicht weit: Bürokratismus, Militarismus, Individualismus, Familien-Gesumse, Rassismus, Sozialdarwinismus, Elitedenken - es gibt viele Arten, die Realität nicht sehen zu wollen und die eigene Not mehr oder weniger aggressiv gegen andere zu wenden. Eine Zwangsläufigkeit dessen gibt es nicht.

Wohl aber gibt es eine allgemeine wie subjektive Notwendigkeit zur Aufklärung. Die private Ökonomie gefährdet die Menschheit anstatt ihr Überleben zu gewährleisten. Der gesellschaftlich erarbeitete Reichtum ermöglicht mittlerweile dreifach die bedarfsdeckende Versorgung der Weltbevölkerung mit Lebensmitteln. Die gesteigerte Produktivität erlaubt die gleiche Verteilung von Arbeit und Muße. Kultur, Bildung und Wissenschaft für alle können - befreit vom Druck der Profitermöglichung - ein Vielfaches an Erkenntnis und Kooperation für weiteren gesellschaftlichen Fortschritt und persönliche Entfaltung leisten. Frieden ist durch praktische Kriegsablehnung möglich. Dem Kapitalismus aber kann kein Arzt helfen. Diese Auseinandersetzung um die gesellschaftliche Hegemonie (Kommerz und Konkurrenz oder Humanität und Kooperation?) vollzieht sich an den Regierenden vorbei.

Die positive Veränderung ist eine Sache gemeinsamer Vernunft.

V.i.S.d.P.: Niels Kreller, Schützenstr. 57, 22761 Hamburg.
Herausgegeben von: harte zeiten - junge sozialisten & fachschaftsaktive an der Universität Hamburg.
Veröffentlicht am Mittwoch, den 16. November 2005, http://www.harte--zeiten.de/artikel_318.html