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Vereintes Engagement

Über Panik oder Gleichgültigkeit hinaus

„Grundgesetz im Wortsinn ist in Deutschland seit Monaten nicht das Grundgesetz, sondern das Infektionsschutzgesetz. Das wird wohl noch längere Zeit so bleiben. Das Infektionsschutzgesetz ist das Gesetz, welches das gesamte öffentliche und private Leben begleitet, bestimmt und zwangsläufig behindert. Es war und ist die Grundlage für Maßnahmen, die zumal im März, April und Mai dieses Jahres zu beispiellosen Freiheitsbeschränkungen geführt haben. Die Radikalität dieser Maßnahmen war der Tatsache geschuldet, dass die potenzielle Gefahr so groß und neu war, das Wissen um das Virus aber noch so klein. Die radikalen Maßnahmen des Frühjahrs dürfen deshalb keine Blaupause sein für die Zukunft.
Der dritte Weg regionalisiert
Bei der Corona-Bekämpfung in Herbst und Winter geht es um einen neuen Weg. Nennen wir ihn den dritten Weg. Es ist der Weg zwischen Alarmismus einerseits und Abstumpfung andererseits. Der dritte Weg vermeidet Generalisierungen und Pauschalisierungen, er vermeidet großflächige, gar bundesweite Verbote und Maßnahmen. Der dritte Weg regionalisiert, er kommunalisiert, er lokalisiert, er führt nicht zum großen Shutdown und hastigen Schulschließungen. Er setzt nicht auf soziale Vereinzelung, sondern auf soziale Verantwortung. So viele Eingriffe wie unbedingt nötig und so wenige Eingriffe wie möglich: Das ist die Devise.“

Heribert Prantl, „Corona – der dritte Weg zwischen Alarmismus und Abstumpfung“, „Hamburger Abendblatt“, 28.9.2020., S. 2.

„Die Welt, die sich gerade rasend schnell verändert, die Unwetter, die Pandemien, das Sichtbarwerden der Ausbeutung, in der sich die meisten Arbeitnehmer befinden, all das bedroht das Gewohnheitsrecht, das viele zu haben meinen. (...) Viele Westeuropäer haben sich an die Abwesenheit eines Krieges so sehr gewöhnt, dass sie es für ihr eigenes Verdienst halten. So wie sie sich an den Wohlstand gewöhnt haben oder an die Angst, die zum Bedrohungsmechanismus des Kapitalismus gehört. Strenge dich an, verkaufe deine Lebenszeit, sonst verlierst du den Job, die Wohnung, die Daseinsberechtigung.“

Sibylle Berg, „Westeuropäische Angst / Der Albtraum, die Gewohnheiten zu verlieren“, „SPIEGELONLINE“, 26.9.2020.

„Eine der schauerlichsten Folgen der Arbeitslosigkeit ist wohl die, daß Arbeit als Gnade vergeben wird. Es ist wie im Kriege: wer die Butter hat, wird frech.“

Kurt Tucholsky, „... zu dürfen“, 1930.

Die wirtschaftliche und soziale Krise, die schon vor der Corona-Pandemie bzw. dem politischen Shutdown wuchs, zeigt mittlerweile ihre scharfen Konturen: 6,3 Millionen erwerbstätige Menschen sind zur Zeit in Kurzarbeit und professionelle Beobachter des weltweiten ökonomischen Geschehens sagen die schwerste Rezession seit hundert Jahren voraus.

Diese Lage erfordert ein rapides Verlassen des schädlichen Neoliberalismus, d.h. der politischen Kapitalbegünstigung respektive des Dogmas, der Markt könne alles richten.

Wieder eingeführte oder neu erhobene Steuern (Vermögenssteuer, Erbschaftssteuer, Finanztransaktionssteuer, höhere Progression) holen die erforderlichen Mittel von Finanzspekulationen, Dividenden, Boni und Aktienrückkäufen für öffentliche Investitionen in Arbeit, Soziales, Bildung, Gesundheit und Kultur. Auch Kriege und Rüstungsexporte sowie teure, kriegsgefährliche Neuanschaffungen (z.B. Bomber und Drohnen) sind der erforderlichen zivilen Entwicklung nicht förderlich. Darüber hinaus ist die „Schuldenbremse“ komplett auszusetzen.

Bei der außergewöhnlichen Einschränkung der Grundrechte ist die gebotene Verhältnismäßigkeit kritisch und rational zu bedenken: Sind die Mittel geeignet und erforderlich, den Zweck zu erreichen? Stehen die Nachteile der Maßnahmen in angemessenem Verhältnis zum beabsichtigten Nutzen? Sind die Maßnahmen entsprechend begründet und zeitlich begrenzt? Sie dürfen zudem nur eine Ausnahme und nicht die Regel sein. Die bisherigen Erfahrungen mit der Pandemie bzw. der Eindämmungspolitik erfordern eine gründliche Überprüfung und Neujustierung.

Die letzten sechs Monate haben überdies gezeigt, wie komplex das menschliche gesellschaftliche Leben ist und was alles als „systemrelevant“ gelten sollte.

Auch Bildung, Kultur sowie (verantwortliche) Wissenschaften gehören unbedingt dazu. Dafür lohnt sich jedes aufgeklärte Engagement als sinnvolle Realisierung der Grundrechte. Übrigens gilt – zumal für den Beginn des Semesters – für die Hochschulen: So viel Präsenz wie möglich und so wenig Digital wie nötig.