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,,Jung, flexibel und alles im Griff“?

Der Realismus der Veränderung

,,Viele Menschen sind verunsichert, weil unsere Gesellschaft kaum eine Vorstellung davon hat, wie wir in Zukunft leben wollen. Viele fragen sich eher, wie sie flexibel und dynamisch genug bleiben, um in zwanzig Jahren noch ihren Lebensstandard halten zu können. (...) Wir stehen vor einer Neuordnung der globalisierten Welt. (...) Die Individualisierung der Arbeitswelt nimmt zu, damit steigt die Eigenverantwortung. (...) Sich selbst organisieren, vernetzen und sich vermarkten zu können, wird immer wichtiger. (...) Ausgehend von der Technologie verändert sich die Organisation der Arbeitswelt. Diesen Prozess erleben wir bereits seit zwanzig Jahren, und nicht alle können oder wollen diesen Wandel mitvollziehen.“

Prof. Peter Wippermann (Folkwang Universität der Künste Essen). ,,Werte für 2014“, Interview, Hamburger Abendblatt, 30.12.2013.

Der ,,Trendforscher“ Wippermann propagiert eine scharfe gesellschaftliche Konkurrenz, indem er sie für natürlich erklärt: Indem scheinbar abstrakte ,,Technologie“ und ,,Globalisierung“ als Ursache der Alltagshetze deklariert werden, wird den Individuen Anpassung am Markt und Verzicht auf solidarische Entwicklung nahegelegt. Beschönigend nennt er das ,,Eigenverantwortung“. Das ist pur neoliberal und hat mit (Sozial- und Kultur-)Wissenschaft rein gar nichts zu tun.

Wissenschaft als Aufklärung setzt hingegen die sozial-kritischen Reflexion gesellschaftlicher Strukturen und Machtverhältnisse für die Schaffung menschenfreundlicher Lebensbedingungen voraus. In diesem Sinne kritisiert der Politikwissenschaftler Mohssen Massarrat (Uni Osnabrück): ,,Heute konkurrieren die noch Erwerbstätigen mit den Erwerbslosen, die Vollzeit- mit den Teilzeitbeschäftigten und den Minijobbern, die Stammbelegschaften mit den Leiharbeitern. Das soziale Fundament dieser ruinösen Konkurrenz ist nichts anderes als die Massenerwerbslosigkeit - von der das gegenwärtige Kapitalismusmodell zehrt“ (Blätter für deutsche und internationale Politik 10/13).

Diese Entwicklung ist durch die rot-grüne ,,Agenda 2010“ (Abbau von Sozialleistungen und Arbeitnehmerrechten, Förderung von Niedriglohn und Leiharbeit, Rente mit 67 etc.) forciert worden. ,,Moderne Sozialdemokraten wollen das Sicherheitsnetz aus Ansprüchen in ein Sprungbrett in die Eigenverantwortung umwandeln“, schrieben dazu schon 1999 die sozialdemokratischen Regierungschefs Gerhard Schröder und Tony Blair als Legitimation. Ihr liegt eine gefährliche ideologische Umdrehung zugrunde: Alle

Menschen, denen der Sozialstaat nützt - also die ganze erwerbsabhängige Bevölkerung - seien potentielle ,,Sozialschmarotzer“.

Man glaubt besser nicht daran. Die tatsächlichen Abstauber sitzen wo anders: ,,Wir erleben also seit Jahren eine eklatante Umverteilung - von Arbeits- zu Kapitaleinkommen. So stiegen die gesamtgesellschaftlichen Lohneinkommen zwischen 1991 und 2012 (...) um 59 Prozent, die Unternehmens- und Vermögenseinkommen steigen dagegen im selben Zeitraum (...) um 84 Prozent. Die in dieser Dekade von der Lohn- auf die Kapitalseite umverteilte Summe beläuft sich auf die gigantische Summe von rund 1500 Mrd. Euro.“ (Massarrat, a.a.O.) Frau Merkel, als leitende Angestellte der Deutschen Bank, verallgemeinert und verschärft diese Politik in ganz Europa.

Da diese politisch gemachten Zusammenhänge zunehmend erkannt und öffentlich kritisiert werden, wächst das gesellschaftliche Engagement zum Beispiel: für die Lösung der Schuldenbremse und ernsthafte Besteuerung großen Vermögens, für Bankenregulierung, für Arbeitszeitverkürzung und Lohnerhöhung und damit für eine Rekonstruktion von Sozialstaatlichkeit. Auch die Studienreform für Bildung als Beitrag zur mündigen, demokratischen und solidarischen Gestaltung des internationalen Zusammenlebens steht in diesem Kontext. Das ,,Mithalten“ in der Konkurrenz hat seine Alternative im kollektiven politischen Engagement für grundlegende soziale Verbesserungen.

Solidarität und Hoffnung sind kein Makel. Möglichkeiten für soziale Verbesserungen einzugreifen, werden in der Universität und auch sonst in der Gesellschaft vielfach geschaffen und müssen ausgebaut werden. Um diesen Trend in Wissenschaft und studentischer Bewegung zu befördern, sind auch die derzeitigen Wahlen an der Universität zu nutzen.

V.i.S.d.P.: Golnar Sepehrnia, Schützenstr. 57, 22761 Hamburg.
Herausgegeben von: harte zeiten - junge sozialisten & fachschaftsaktive an der Universität Hamburg.
Veröffentlicht am Sonntag, den 29. Dezember 2013, http://www.harte--zeiten.de/artikel_1239.html